Dieses Weblog beinhaltet Erfahrungsberichte von meinem Praktikum-Abenteuer in Shanghai, China.

Donnerstag, November 02, 2006

Kulturschock andersrum

In vielen Hochglanzzeitschriften wird Shanghai derzeit oft als super modern dargestellt. Das stimmt auch, aber das heisst nicht, dass alles unseren kulturellen Werten entspricht. Shanghai hat so viele Facetten. Hier braucht man deshalb oft mehr als nur Toleranz, Ausdauer und Flexibilität. Als Europäer kann man in China schnell einen Kulturschock einholen. Das leuchtet wohl jedem ein.

Denn betritt man erstmals chinesischen Boden, ist alles so ganz anders. In Shanghai herrscht ein permanentes Verkehrschaos, unglaublicher Lärm, grosse Umweltverschmutzung, viele graue Wohnblocks, unglaublich viele hektische Menschen, ein permanent drängelnder Mob ob im Verkehr oder im Shoppingcenter und leider viel zu wenig Rückzugsmöglichkeiten. Allem voran steht also die Reizüberflutung: Lautstärke, Luftqualität, Gerüche. Aber auch die unbekannte Sprache und Schriftzeichen machen das Leben nicht einfach. Die Verständigung mit dem Verkaufspersonal und Behörden klappt manchmal aber selbst auf kultureller Ebene nicht, unabhängig von der Sprache. Für mich persönlich ist die grösste Herausforderung aber die U-Bahn in der Rushhour. Man kennt die Bilder von der Metro in Tokyo. Tausende Pendler versuchen in die Metro zu gelangen, zum Unterschied ist hier das Ganze aber nicht geregelt, sondern es herrscht pure Anarchie.

Ganz allgemein umfasst der Begriff Kulturschock die Reaktionen auf ungewohnte Erfahrungen in einer fremden Kultur. Nicht einzelne Auslöser stehen im Mittelpunkt, sondern die Menge an nicht verarbeitbarer Situationen. Wenn es darum geht, Konventionen und vermeintlich natürliche Verhaltensweisen in Frage zustellen, dann steht China wohl für uns Europäer zuoberst auf der Liste der Kulturschock auslösenden Länder. Unser Denkmuster gilt hier einfach nicht, oder nur in ausgewählten Situationen. Gestik, Mimik, Höflichkeit, gutes Benehmen und die Vorstellung von politisch korrektem Verhalten, kurzum alles was wir als richtige Umgangsnormen kennen, wird auf einmal umgekehrt.

Wie erkennt man nun in China, ob man ein Kulturschock eingeholt hat?
[in Anlehnung an: Iwanowski(2004). Reisegast in China.]

  • Entweder fängt man an, alle Chinesen zu hassen und lässt sich abfällige Begriffe einfallen.
  • Oder man wird missionarisch für die eigene Kultur tätig und machst sich zutiefst lächerlich, indem man einem Mob in der U-Bahn einen vorwurfsvollen Vortrag über das geregelte Einsteigen und die Vorzüge des Schlange-Stehens hält und enttäuscht ist, wenn alle lachen und trotzdem bei der Ankunft der Metro in eine spontane Prügelei verfallen.
  • Man wird aggressiv und fängt an sich durch die Menschenmenge zu rempeln.
  • Wenn einem "Ausländer" oder "Langnase" hinterher gerufen wird, schnauzt man "Chinese" zurück.
  • Man schneidet Grimassen, wenn Chinesen einem hinterher starren.
  • Oder man verbringt die Tage mit anderen Ausländern und lästert über die Chinesen.
  • Oder aber man gibt ein Vermögen für eine original italienische Pizza aus.

Ganz ehrlich, auch ich benötigte zuerst einige Tage um mich an Shanghai zugewöhnen. Aber ich glaube nicht, dass mich der Kulturschock schon eingeholt hat. Trotzdem, ohne Rückzugsmöglichkeiten wie ein netter Abend beim Italiener mit deutschen Kollegen und dabei über Chinesen zu lästern, wäre der Aufenthalt hier doch einiges anstrengender.

Aber nicht nur Europäer können einen Kulturschock einfangen. Für Chinesen scheint Europa gerade zu steril. Gestern habe ich auf 20min.ch gelesen, dass Paris Touristen aus Asien, vor allem aus Japan krank macht. Jedes Jahr fallen angeblich Dutzende Besucher aus Asien dem so genannten Paris-Syndrom zum Opfer, was eigentlich ein Kulturschock ist. Die Symptome sind Verfolgungswahn und Selbstmordgedanken, manche erleiden sogar Psychosen. Als Grund wird der Unterschied zwischen Vorstellung von und Realität in Paris vermutet.

Bernard Delage, Mitarbeiter eines Vereins, der japanischen Familien in Frankreich hilft, erklärt den Kulturschock so: "In japanischen Geschäften sind die Kunden König, während man von den Verkäufern hierzulande kaum beachtet wird. Die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln schauen ernst, und Handtaschen-Diebe tun ihr Übriges dazu, dass man sich nicht wohlfühlt."
http://www.20min.ch/news/kreuz_und_quer/story/19906818

Denkt also daran, wenn ihr das nächste Mal einem chinesischen Touristen begegnet. Verhaltet euch laut, rempelt ihn an, gewährt ihm keinen Vortritt im Strassenverkehr, spuckt ihm vor die Füsse. Dabei aber immer lächeln und ihr macht damit seinen Aufenthalt in der Schweiz viel angenehmer. Natürlich nur um ihn vor einem Kulturschock zu bewahren. ;-)

4 Comments:

Anonymous Anonym said...

gelunger post! *daumenhoch*

02 November, 2006 07:51

 
Anonymous Anonym said...

jetzt begreife ich plötzlich alle Teenies die neben mir her auf die Haltestellenböden spucken müssen oder beim ueberqueren von Fussgängerstreifen Frauen vor die Füsse - und auch alle Ausländer die gewohnt sind Spucknäpfe zu benutzen - aber hierzulande keine vorfinden können...

02 November, 2006 22:23

 
Anonymous Anonym said...

Ich vermute, die Einwohner haben den grössten Kulturschock den es gibt schon lange für sich selber gebucht im eigenen Land nämlich - wenn man sich gesundheitlich hauptsächlich unverstanden fühlen muss und einfach irgendwann mal tot umfällt, wenn man den Smog nicht mehr ertragen kann - mir würde das glatt so ergehen in solchen Riesenstädten und unter solchen Luftqualitäten. Dass Menschen überhaupt so viel an Reizüberflutungen etc. ertragen gelernt haben ist ja schon mal fantastisch irgendwie...

02 November, 2006 22:27

 
Anonymous Anonym said...

Also der Italiener um die Ecke wäre ja eigentlich näher gewesen...
Eine Pizza ist halt doch was gutes - besser als Hühnerfüsse etc.
Kopfhoch - spuck vor dich hin - und geniesse den guten Smog

03 November, 2006 11:30

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home